Oder auch: Den Gedanken, „dafür bin ich zu alt“, kannst du gleich wieder loslassen.
Da sitzen wir nun. Tatjana, meine ehemalige Nachbarin, und ich bei Kaffee und Quarkbällchen in ihrem gemütlichen Zimmer einer betreuten Wohneinrichtung und plauschen, im wahrsten Sinne, über Gott und die Welt.
Mit ihren 90 Jahren ist sie immer noch geistig voll auf der Höhe, auch wenn im Moment der Arm in Gips liegt und auch der restliche Körper „verflixt nochmal, nicht mehr das macht, was ich von ihm möchte.“
Wir sprechen über so viele unterschiedliche Themen, dass sogar ich an der einen oder anderen Stelle Mühe habe, mich daran zu erinnern, um was es vor einer Viertelstunde eigentlich ging. Doch genau diese Gedanken-Sprünge halten unsere Unterhaltung so lebendig und leicht, auch wenn wir manchmal Themen in einer Tiefe beleuchten, dass es ebenso den einen oder anderen Moment des gemeinsamen Innehaltens braucht. „Zusammen schweigen kannst du auch nicht mit jeder“, so unser Fazit.
Wir sprechen über Lebensveränderung, die du zwar nicht beeinflussen, jedoch mit einem Schritt zur Seite anders betrachten kannst, um Möglichkeiten zu finden, mit der neuen Situation umzugehen. Wir unterhalten uns darüber, was es z. B. bedeutet, sich nicht vorrangig über sein Geschlecht, sondern als Mensch zu definieren, um uns gleichzeitig darüber bewusst zu werden, dass wir schon immer am Menschen und seiner Seele interessiert waren. Zur Erinnerung, ich schreibe hier über eine Begegnung mit einem Menschen, der hautnah erlebte, wenn Bomben direkt neben ihm einschlugen. Und der weiß, wie sich Todesangst anfühlt – bis heute. Ich spreche von einer Frau, die überwiegend in Zeiten lebte, in denen das Thema Gleichstellung mehr als nur Fragezeichen bei dem einen oder anderen auslöste – wobei wir uns wiederum die Frage stellen dürfen, wie weit wir seitdem gekommen sind. Und die trotz aller Widrigkeiten zeitweise einen Beruf ausübte und Mutter war.
Wir sprechen über das Buch „Wolken“ von Herrmann Hesse und blicken gleichzeitig aus dem Fenster, um die Wolken, die an uns vorbeiziehen, zu deuten – „Was siehst du?“ Überhaupt können wir wunderbar unseren Gedanken freien Lauf lassen, um gleichzeitig realistisch mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. Wie es sich anfühlt, wenn über Nacht der Umzug aus den eigenen vier Wänden in ein betreutes Wohnen unaufhaltbar ist oder der Körper eben nicht mehr so will, wie man selbst. Wie sich die Seele oftmals durch ihn ihre Ruhe holt, weil du sie einmal zu oft ignoriert hast. Auch wenn bei Tatjana ganz klar das Alter seinen körperlichen Tribut fordert.
Wir sprechen über Gedanken-Karusselle und wie sich diese mit 90 Jahren und 47 Jahren inhaltlich unterscheiden. Wir sprechen über unsere Strategien, aus selbigen wieder herauszukommen und sind uns darüber einig, dass Selbstwirksamkeit und der Glaube an die eigene und an eine höhere Kraft (unabhängig von Religion) einen großen Teil zum eigenen Vertrauen beitragen. Wie befreiend es sein kann, sich gedanklich als auch physisch von Materiellem freizumachen, weil es uns eben nicht die gewünschte Sicherheit gibt, die so vielen Menschen heute im Innersten fehlt.
Wir sprechen über den Fluss des Lebens, über Unterschiede und Übereinstimmung von „früher und heute“ und darüber, Grenzen zu überwinden – vor allem die im eigenen Kopf. Ein schöner Abschluss meines Besuches, zeigt dieses Bestreben doch den Anfang unserer Freundschaft, die 43 Jahre Altersunterschied „trennt“ und die doch so unendlich viel gemeinsam hat – z. B. das Briefeschreiben. Und auch die Dankbarkeit, die andere im eigenen Leben zu haben. Mit einer Verbundenheit, nach der sich so viele (unbewusst) sehnen.
Liebe Tatjana, ich danke dir von ganzem Herzen für diese, unsere Freundschaft, die vor rund 12 Jahren begann und mir immer wieder neue Aspekte, Erkenntnisse, Perspektiven, tiefe Gespräche und leichte Gedanken bringt – und Lachen, ganz viel Lachen. Und die mir vor allem eines ganz klar vor Augen führt: „Dafür bin ich zu alt“, ist definitiv eine Überzeugung, die total für die Tonne ist. 😉
Deine Nadine